Eine Fahrt in die Ukraine (8)

Zentral im Spendengeschäft

Die Tierarztpraxis von Anatoliy

Trotz der leichten Abreiseverzögerungen habe ich es doch noch ganz gut bis in das Dorf Orliwschtschyna nordöstlich von Dnipro geschafft. Die Praxis von Anatoliy liegt an der Hauptstraße in einer Ladenzeile und ist somit leicht zu finden. Wir haben seit einiger Zeit Kontakt über facebook und stehen uns jetzt erstmals in Echt gegenüber.

Das ist aber kein Problem, eine herzliche Umarmung löst die beiderseitige Unsicherheit und wir laden flott aus, die Kommunikation zunächst mit Händen und Füssen. Schnell ist wie immer relativ, diesmal muss auch ein großer OP-Tisch gewuppt werden.
Bisher ist Anatoliys Einrichtung eher spartanisch: Ein Küchentisch auf ein paar Backsteinen, ein schmuckloses Regal mit den wichtigsten Medikamenten. Dank unserer Spender kommen jetzt Behandlungsleuchte, ein tragbares Sono, ein Autoklav und vieles mehr an Ausstattung dazu. Anatoliys strahlendes Gesicht ist das schönste Dankeschön für die ganzen Mühen!

Eine einfache Landpraxis

Dann geht es zu ihm nach Hause, eine gemütliche Datscha, die von seinem Großvater gebaut wurde. Dort wartet bereits seine Frau Nastya mit dem Abendessen: Wieder mal musste eins der Hühner aus dem Hof dran glauben. Sehr lecker! Nastya kann etwas Englisch, aber die meiste Zeit bemühen wir neben Händen und Füßen den Google-Übersetzer. Auch wenn es etwas mühsam ist, wir schaffen eine interessante und in weiten Teilen auch lustige Unterhaltung.

Lustig vielleicht auch nicht zuletzt wegen des leckeren Biers: Ein dunkles, sehr süffiges Gebräu aus ukrainischer Herstellung, das im Dorfladen in große Plastikflaschen gezapft wird. Und es gibt sogar einen Bringdienst! Nachdem wir die erste Bouteille geleert hatten, reichte ein kurzer Anruf und fünf Minuten später stand Nachschub auf dem Tisch. Ob der Service allerdings für alle gilt oder nur für besondere Freunde des Bierhändlers, weiß ich nicht.

Schließlich ist es Zeit, zu Bett zu gehen. Ich bekomme das Zimmer von Artem, dem kleineren Sohn.

So dekorieren ukrainische Kinder ihr Zimmer

Am nächsten Morgen ist wieder Programm angesagt: Ich habe zwar in erster Linie veterinärmedizinische Sachen an Bord. Aber mit ganz leeren Händen für die Menschen wollte ich auch nicht kommen. Und so machen wir uns nach einem kurzen Frühstück auf den Weg zur örtlichen Spendensammelstelle, einer dörflichen Organisation namens ecotime, die im Gemeindehaus residiert.

Dort erwarten mich drei Damen. Aber die Buschtrommel ist aktiv und innerhalb kürzester Zeit füllt sich der Saal: Der Doktor kommt, der Großtierkollege Alexander. Soldaten. Und am wichtigsten: Die Dolmetscherin, ich nenne sie hier mal Olga. Sie spricht sehr gut Englisch, weil sie auch häufig ausländische Studenten an der einer Universität unterrichtet hat.

Ich habe eigentlich nicht viel für sie dabei, Decken, ein paar Wintersachen. Ein Karton Humanmedikamente (allesamt abgelaufen, was mir ausgesprochen peinlich ist, aber der Doc stört sich nicht dran). Verbandsmaterial, Krücken, ein paar Lebensmittel. Trotzdem sind sie hocherfreut und ich bekomme einen richtig ausführlichen Einblick in das Geschehen.

Diese Gruppe hatte sich zu Beginn des Krieges gebildet, als die Leute aus Charkiw geflohen und dann hier in ihrem Dorf hängengeblieben sind. Wieder mal ein klassisches „wir packen an“. Wie letzten März in Krakau.

Mittlerweile sind viele der Geflohenen wieder zurückgegangen. Und so hat sich die Hilfstätigkeit jetzt mehr in Richtung Front und den ehemals besetzten Gebieten entwickelt. Dort haben die Russen ja so ziemlich alles platt gemacht, bzw. geplündert. Kein Strom, kein Wasser, keine Heizung.

Als die Flüchtlingsströme kamen, musste Brot her. Gab’s nicht. Aber es wären keine Ukrainer, wenn sie sich nicht zu helfen wüssten: Ein Bauer hat Getreide gespendet, das konnten sie gegen Mehl tauschen. Und dann war da doch noch die alte stillgelegte LPG aus Sowjetzeiten. Hatte die nicht einen Backofen? Nun ja, Ergebnis ist klar: Leckeres Steinofenbrot.

Die Geschichte hat mir gut gefallen und da habe ich die Einladung zur Backstubenbesichtigung sehr gerne angenommen. Sie ist in einem Zustand, da würde der deutsche Kontrollör noch nicht mal einen Fuß reinsetzen. Aber immerhin gibt es am Eingang eine Hygienestation 😉

Soweit ich das überblicke ist auch noch niemand an diesem Brot gestorben. Olga ist eine begeisterte Fremdenführerin und erklärt mir mit vollem Elan die Szenerie. Viele der Helfer wollen nicht in sozialen Netzwerken auftauchen, daher habe ich einige Gesichter unkenntlich gemacht.

Sie müssen damit rechnen, dass sie bei den Russen auf eine Liste kommen. Was im Falle einer Okkupation – die ja keineswegs vom Tisch ist – auch ziemlich tödlich ausgehen kann. Oder sie sind selbst Russen und dürfen daher auf keinen Fall mit dem Support der Ukraine in Zusammenhang kommen. Wie war das, die Ukrainer sollen sich doch einfach ergeben, dann ist Ruhe? Die Musik im Video ist übrigens Originalton. Sehr passend.

Die dörfliche Sammelstelle und ein Backofen

Später nehmen mich Nastya und Anatoliy zu einem Ausflug in die Wälder der Umgebung mit. Es muss eine tolle Gegend sein, viel Wasser und Wald. Ob ich Lust hätte auf „Zoo“? Die Alternative wäre „Ponyreiten“, jedenfalls habe ich das so verstanden 😉 O.k., ich bin kein Fan von Zoos, aber besser als Ponyreiten auf jeden Fall! Und auch hier wieder eine Überraschung: Es handelt sich um ein großes Gelände im Wald. Mit Gehegen für Ziegen, Pfauen, Enten, ein zahmes Nutria und etliches Getier mehr. Sehr schön gemacht, und am Flussufer im Bau befindlich eine Reihe ins Wasser ragender Ferienhäuser mit Bootsanleger. Wenn das mal fertig ist, werde ich hier unbedingt einen Urlaub machen!

Auf dem Rückweg wird es wieder ernst. Ich habe nicht verstanden, wohin wir fahren und was es am Eingang dieses Fabrikgeländes eigentlich zu debattieren gibt. Ich werde gebeten, meinen Gimbal mit der Kamera doch bitte tunlichst verschwinden zu lassen und auch das Smartphone am besten in die Tasche zu stecken. Wenige Minuten später ist klar, worum es geht: Wir sind in einem Lager der Soldaten. Und ich soll den Ofen besichtigen, der das Zelt beheizt. Das ist nämlich ein anderes Projekt der Unterstützer: Sie schweißen kleine Öfen aus Blechplatten, damit es die Soldaten schön warm haben. Und bauen Duschen in Container, damit die Körperpflege auch nicht zu kurz kommt. Und auch das soll ich mir jetzt ansehen.

Wenn ich ehrlich bin, geht mir hier erstmalig der Arsch tatsächlich auf Grundeis. In ein direkteres Ziel der Raschisten kann man sich ja wohl kaum begeben! Andererseits sind die Anwesenden alle entspannt und so atme ich tief durch und versuche den beklemmenden Gedanken an herannahende Granaten und Bomben zu verdrängen. Das ist ein bisschen so, wie in einem engen Raum eingesperrt zu sein, Platzangst zu bekommen. Tief durchatmen, locker werden, entspannen.

Und natürlich ist auch dieser Besuch total interessant: Wir betreten ein von außen unscheinbares Zelt. Ich war zwar vor 40 Jahren mal beim Bund, aber musste als Sani nie in Zelten übernachten. Zudem war ich im Geschäftszimmer beschäftigt (= Verwaltung), so dass wir auf Übungen immer entsprechend komfortabel ( = bayrisches Gasthaus mit Bier vom Fass) untergebracht waren.

Es empfängt mich eine wahrhaftige Männerdomäne. Brav grüße ich beim Betreten beherzt und laut in die Runde „dobre denʹ!“, was natürlich Mist ist. Der Gruß beim Militär lautet seit hundert Jahren „slava ukraini“ (Ehre der Ukraine), worauf man antwortet „herojam slawa“ (Ehre den Helden). Nun gut, ich kann nicht so gut Ukrainisch und die 30 Mann, die hier auf ihren Feldbetten liegen, rauchen, schlafen, in einem kunterbunten Mix aus Schlafsäcken, Decken und Lagerhunden antworten brav und einstimmig „dobre den!“. Der Ofen in der Zeltmitte ist auch cool, er gibt wirklich schön warm. Und ich bin wieder mal von dem „wir machen das jetzt einfach und mal“ beeindruckt! Und überlege bei mir, wieviele von diesen Männern in einem halben Jahr noch leben werden. Sehr krass.

Dann wird es Zeit, diesen wirklich ausgesprochen gastfreundlichen Ort zu verlassen. Es fällt mir schwer, und es wird nicht leichter durch die Abschiedsgeschenke: Ein kitschiger Ukrainepullover von Anatoliys Familie, den ich liebe. Und ein patriotisches Bild, das jetzt mein Arbeitszimmer schmückt. Die Damen von der Sammelstelle haben mir ein Glas mit „Patron“-Aufdruck mitgebracht, einen Anhänger mit der örtlichen Kirche drauf und ein kleines Ukraine-Fähnchen, das bis heute mein Amaturenbrett ziert. Es ist unglaublich, wie in so kurzer Zeit ein so herzliches Verhältnis zustandekommen kann! Ich habe nicht viel gebracht. Aber sie sind so froh, dass sich überhaupt jemand kümmert und sie nicht alleine lässt. Das ist wirklich sehr bewegend.

Ich habe viele Anregungen und Bitten mitgenommen. Leider habe ich keine Möglichkeit, in wirklich großem Umfang einzugreifen. Alexander zum Beispiel versucht, mit den geblieben Flüchtlingen eine kleine Konservenfabrik aufzubauen und hätte dafür gerne ein paar Geräte. Wenn ich Oligarch wäre, würde ich eine meiner Jachten verkaufen und ihnen alle Wünsche erfüllen. Aber das bin ich leider nicht. Und so sammle ich weiter in meinem kleinen Kreis und freue mich über das bisschen Optimismus, das ich damit dort drüben erzeugen kann. Und wenn man erstmal „den Fuß in der Tür hat“ entstehen immer mehr neue Kontakte. Viele Tierschützer/-retter, die eine tolle Arbeit machen, sind dabei. Da kann ich leider auch nur begrenzt helfen. Es gibt einfach zuviel Tierelend. Aber auch zuviel Menschenelend.

Übrigens: Wo sind bitte Rotes Kreuz und Caritas in den entbesetzten Gebieten? RK, das sind die, die mit den 50 fabrikneue Toyota Landcruisern in Kiew auf- und abfahren. Die Leute mit den schicken neuen Rotkreuzklamotten. Man hat sie schon gesehen. Aber niemals vor Ort in den schlimmen Gebieten. Das müssen andere machen. Kleine Murkel wie ich. Oder dog-help Charkiv. Oder der kanadische Dan Fine. Leavenopetbehind aus Oldenburg. Und ganz viele Leute auf völlig verlorenem Einzelposten in der Ukraine. Meistens alte Menschen, die nicht mehr aus ihrer Datscha fliehen wollen, weil sie gar nicht wissen, was sie anderswo sollen. Drumrum fallen die Granaten und Bomben, aber sie kochen trotzdem für die (von den Geflohenen zurückgelassenen) Tiere. Eine ganz, ganz schlimme Szenerie.

Und die Menschen in den befreiten Gebieten bekommen keinerlei Unterstützung von der FIFA. Ah, sorry, verplappert: Ich meinte nicht FIFA, sondern Rotkreuz. Das ist korruptionsmässig ganz bestimmt ein sehr großer Unterschied! Auch deshalb mache ich hier mein eigenes Ding und unterstütze genau die Leute, von denen ich denke, dass es sinnvoll ist. Das macht allerdings sehr viel Arbeit und ich weiß nicht, wie lange ich das noch durchhalten kann.

Mit einer Träne im Auge mache ich mich auf den Weg nach Odessa. Soll ich ehrlich sein? Ich bin kein guter Mensch, ich bin ein ganz mieser Egoist: Ich habe diese ganze Aktion nur gemacht, weil ich unbedingt Odessa sehen wollte, bevor es weggebombt wird ;-))

Spoiler: Das war die richtige Entscheidung. Nicht, weil Odessa weggebombt wurde. Sondern weil es eine der schönsten und coolsten Städte ist, die ich je gesehen habe.

Ich weiß nicht, wann ich den letzten Teil schreiben kann, da ich übermorgen wieder starte. Vielleicht schreibe ich von unterwegs aus meinem Fahrerhaus. Diesmal geht es gegen den Uhrzeigersinn, zuerst nach Odessa, dann Richtung Norden. Ein paar kniffligere Stationen dabei, Cherson, Nikopol. Hoffentlich bleibt es einigermassen ruhig.

Ihr könnt hier wieder mitfahren: https://www.facebook.com/groups/vets.help