[Vorwort: In der ersten Version des letzten Teils (6) hatte ich was durcheinandergebracht: Ich habe die Jungs in Charkiv erst heute getroffen, vor der Weiterfahrt nach Dnipro. So geht’s halt, wenn man glaubt, aus dem Gedächtnis schreiben zu können 😉 ]
Ich habe schön ausgeschlafen, schließlich ist Sonntag. Und gestern gab es hochprozentiges. Gegen Mittag will ich mich aufmachen, es soll heute in den kleinen Ort Orliwschtschyna, etwas östlich von Dnipro, gehen.
Allerdings komme ich nun doch nicht so schnell vom Hof. Und das liegt nicht daran, dass das Hoftor fest geschlossen ist. Ich habe just meine Tasche gepackt, da klopft es wieder mal an der Tür. Ich bin ein wenig misstrauisch, so ganz fließend ist das Deutsch nicht, der, nun ja, wie soll ich das jetzt höflich sagen (sie lesen bestimmt mit), nun, vielleicht etwas bärtigen Gestalt. Aber ich verstehe, dass ich doch mal mitkommen soll.
Und schon gibt es die nächste Überraschung der ukrainischen Gastfreundlichkeit: Es handelt sich bei dem vermeintlichen Räuber Hotzenplotz um den Chef des ganzen Ladens. Er ist irgendwie im Autohandel involviert, hat die Feriensiedlung selbst gebaut. Ich lobe ihn dafür, wirklich toll! Er fährt nächste Woche wieder nach Oldenburg, um da gebrauchte Karren abzuholen. Und er hat gestern mit seinen Kumpels getagt, zwei nicht minder schräge Vögel, über deren Art des Nahrungserwerbs ich eigentlich gar nicht so genau Bescheid wissen will.
Sie sind total nett. Ich werde genötigt, in ihrer Jungs-Hütte am großen Tisch Platz zu nehmen. Da haben sie ganz offensichtlich den gestrigen Abend verbracht und sind daher ebenfalls noch ein bisschen müde. Ein schicker großer Pavillon, rundum verglast. Mit Holzherd und einem gemütlichen Sammelsurium an allerlei Devotionalien, vom Keilerkopf bis zur Nazibüste. Das nehme ich zumindest an, aber die Jungs wissen auch nicht so genau, wen sie darstellen soll. Und unter der 2 m-Betondecke ist ein kleiner Bunker. Der allerdings im Moment nur zum Einlagern von festen und flüssigen Nahrungsmitteln genutzt wird.
Ich muss erstmal eine erstklassige Hühnersuppe auslöffeln, dann kommt als Hauptgang wieder Gulasch. Offensichtlich hat seine Frau davon gestern etwas mehr gekocht. Ich kann nicht mehr, hatte ja gerade erst die restlichen Wareniki aufgefuttert. Ob ich vielleicht eine kleine Vodka? Oh nein, ich weiß ganz genau wie das enden würde! Und habe ja auch noch ein paar Kilometer vor mir, heute muss ich nach Dnipro kommen. Aber die übrig gebliebenen 1,5l-Bierflaschen (Dortmunder Küblböck oder so) müsse ich dann wenigstens mitnehmen. Na gut, es gibt – vielleicht – schlimmeres.
Zufälligerweise habe ich mein Harley-Davidson-T-Shirt an. Der Kumpel vom Chef ebenfalls. Und dann entspinnt sich schnell ein kleines Gefachsimpel, ich müsse jedenfalls unbedingt zum Harleytreffen im Juni nach Tscherkassy kommen. Meine Ausrede, dass 2000 km Anfahrt vielleicht doch etwas viel seien, lassen sie nicht gelten. Schließlich hätte ich ja einen Transporter, damit könnte ich das Moped doch herfahren und dann aufs Treffen gehen. Ich habe die Telefonnummer vorerst mal nicht weggeworfen. Auch wenn ich nicht glaube, dass ich dieses Jahr die Zeit dafür haben werde.
Irgendwann werde ich dann aber unruhig, mein Zeitplan drückt wieder mal. Aber jetzt sind wir schon in vollem Schwung und ich muss unbedingt doch noch mal eben mit rüberkommen und mir ein paar Autos anschauen (nein, ich verkaufe meins jetzt nicht, auch wenn er mir einen echt guten Preis gemacht hat).
Wir machen also einen Spaziergang zum Nachbarn. Schauen in den Hühnerstall, dort kam die Suppe her. Also die Einlage. Sehr autenthisch. Aber was da dann sonst noch beim Hühnerhof steht, haut mich um: Angefangen mit zwei süßen Zaz 965, aus denen er einen funktionierenden machen will. Über einen ziemlich neuen Tesla X bis hin zum Mega-Pickup. Alle mit „humanitarian aid“ beschriftet. Ich frage nicht nach. Klar, stehen da auch noch eine Harley und eine GoldWing. Dann kommen wir zur Garage: Ich werde genötigt, in dem Polaris Slingshot Platz zu nehmen und auf den Starterknopf zu drücken. Die Jungs freuen sich diebisch, als ich Gefallen am Röhren des Motors finde. Klickt die Bilder auf groß, dann seht Ihr auch eine Beschreibung dazu.
Irgendwann schaffe ich es dann doch noch, mich von dieser schönen Szenerie loszureißen. Beim nächsten Mal werde ich etwas mehr Zeit einplanen, das wird bestimmt lustig! Und in der Tat: Irgendwie haben sie neulich Wind von meiner demnächst anstehenden Tour bekommen und ich daraufhin die Einladung, dann unbedingt wieder reinzuschauen! Da freue ich mich schon drauf!
Ich habe noch ein bisschen Zeit für einen kleinen Rundgang durch die Innenstadt, bevor ich mich mit Volodymyrs Kumpels für die Konserven- und Medikamentenübergabe treffe.
Charkiv scheint mir eher schmucklos, eine gigantische Ukrainefahne weht an der Uferpromenade. Auch hier natürlich prächtige Kirchen. Angrenzend mehrere Läden für Lobpreisungs- und Benedeiungsbedarf. Und auch einige Gründerzeitgebäude, die es leider komplett hinter sich haben – der Dachstuhl liegt im Erdgeschoss. Ein Jammer. Aber auch hier sind sie am Renovieren und man kann zuversichtlich sein.
Ich mache einen kurzen Abstecher in die Katakomben der U-Bahn, wo sich die Bevölkerung bei Bedarf in Sicherheit bringt. Eigentlich dachte ich, es wäre eine Unterführung, die mich zum gegenüberliegenden Einkaufszentrum bringt: Es geht ein eisiger Wind und ich brauche eine Mütze.
Aber da muss ich gar nicht erst bis ins Einkaufszentrum, eine freundliche Mützenverkäuferin hat im zugigen Durchgang ihren Stand und wir werden uns schnell handelseinig. Und dann klingeln mich auch schon die Jungs an und ich mache mich auf den Weg zu unserem Treffpunkt.
Es ist schnell umgeladen. Naja, am wichtigsten war wohl das Päckchen mit den Medikamenten für die Front. Anschließend laden sie mich auf eine Stadtrundfahrt der ganz eigenen Art ein: Sie wollen mir die zerschossenen Wohngebiete zeigen, damit ich es zuhause berichte. Die Jungs kommen aus diesem Viertel, sie sind hier aufgewachsen.
Es ist ein merkwürdiges Sightseeing: Man kennt die Bilder natürlich aus dem Fernsehen. Wenn man aber in echt davorsteht, wird das ganze Ausmaß doch sehr viel greifbarer. Eigentlich aber ist es unfassbar.
Was soll man zu diesen Kriegsverbrechen sagen? Vielleicht berichtet man am besten, dass das keine zufälligen Treffer waren: Putin hat ganz gezielt ein riesiges, ziviles Wohnviertel im Plattenbaustil zusammenschießen lassen. Einen Supermarkt. Ein Krankenhaus. Einen Kindergarten. Über Wochen und Monate. Auch von Kampfjets aus, die Piloten haben ganz genau gesehen, was sie da machen. Entnazifizierung nennen sie das.
Unbedingt muss ich berichten, dass die Ukrainer bereits wieder dabei sind, die Wohnkomplexe zu reparieren. Sie könnten zwar morgen wieder weggesprengt werden. Aber dann bergen sie eben wieder die Verletzten, holen die Leichen raus und kehren den Schutt zusammen. Sie holen den nächsten Kran und den nächsten Betonmischer und dann fangen sie wieder von vorne an. Ich bin wirklich ungemein beeindruckt!
„Wir halten durch, sie kriegen uns nicht klein!“, das hört man von jedem, mit dem man zu tun hat. Ich glaube das wirklich, nach allem, was ich gesehen habe. Und ich verstehe sehr gut, wieso für die Ukrainer Verhandlungen zu russischen Bedingungen keine Option sein können. Und wieso sie verzweifelt westliche Waffen fordern.
Man sollte in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass die Ukraine 1994 im Zuge des Budapester Memorandums so dumm war, ihre Atomwaffen abzugeben. Russland, Großbritannien und die USA haben im Gegenzug für die Achtung der ukrainischen Souveränität garantiert. Hat dann wohl nicht so gut geklappt.
Leider tickt meine Uhr schon wieder, ich muss jetzt wirklich mal los Richtung Dnipro. Dort wartet Anatoliy, mit dem ich seit Monaten regen Kontakt über facebook habe. Ich freue mich darauf, ihn endlich persönlich kennenzulernen!
Wir verabschieden uns also und ich muss den Jungs versprechen, mich mal zu melden und ihnen zu sagen, was mir in der Ukraine gefallen hat und was nicht. Letzteres ist halbwegs schwierig. Wahrscheinlich müsste man dafür ein bisschen mehr Zeit dort zubringen.
@Jungs: Was mir definitiv nicht gefallen hat, ist, mit 100 Sachen durch die Stadt zu ballern. Wo ich doch sowieso ein ziemlich schlechter Beifahrer bin. Na ja, die Jugend ist ja unsterblich und da ist es gut, dass ich heute ein bisschen daran teilhaben durfte. Laut sage ich das lieber nicht. Wer weiß, was der Google-Übersetzer da wieder draus gemacht hätte?
Die Fahrt nach Orlivshchyna ist unspektakulär, die Straßen sind schlecht.
Trotzdem geht es voran und ich finde die Praxis auf Anhieb. Schon immer wieder ein komisches Gefühl, wenn sich virtuelle Gestalten materialisieren. Zum Glück geht es den anderen aber auch so, und nach einem kurzen Zögern bricht eine herzliche Umarmung den Bann. Auch wenn wir das Ausladen erstmal nur mit Zeichensprache bewältigen.
Beim nächsten Mal mehr von einer ganz normalen ukrainischen Familie, den Soldaten und ihren Unterstützern.
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